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Der Blick auf die Welt ist heute ein anderer – Muff Potter im Interview (Foto: Bastian Bochinski)
Muff Potter im Interview (Foto: Bastian Bochinski)
■ Thorsten Nagelschmidt ist Frontmann von Muff Potter, und er schreibt Bücher. Im Gespräch mit DRESDNER-Autor Matthias Hufnagl spricht der schon lange in Berlin lebende Westfale über Neoliberalismus, den Unterschied von Songs und Literatur sowie sein ambivalentes Verhältnis zur großen Stadt.

Wie würdest du den Zeitraum zwischen eurem Debüt 1996 und dem aktuellen Album »Bei aller Liebe« zusammenfassen?

Thorsten Nagelschmidt: Alles ein bisschen crazy: Im Kinderzimmer im Haus meiner Mutter eine Band namens Muff Potter und kurz danach, mit Huck’s Plattenkiste, ein Label gegründet. Darauf dann im letzten Jahr das erste Album seit 13 Jahren veröffentlicht. Das ist schon etwas Besonderes, und wahrscheinlich auch relativ ungewöhnlich, dass man mit 16 eine Band gründet und mit 46 noch darin spielt. Sogar über den Bandnamen bin ich immer noch glücklich. Als Punkband hätten wir auch einen Namen haben können, mit dem man sich heute nicht mehr unbedingt auf die Bühne stellen will.

Was war im Alter von 16 Jahren einfacher, was ist heute schwerer?

Thorsten Nagelschmidt: Im Hinblick auf gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen ist fast alles schwerer und komplizierter geworden. Natürlich ist auch der Blick auf die Welt ein anderer. Schon auf unserem vierten Album heißt es gleich im ersten Song »Young Until I Die«: »Mit 16 kanntest du den Namen vom Feind, mit 18 hast du ihn wieder verloren«. Wir waren uns sicher, auf der richtigen Seite zu stehen und alles anzuklagen. Das ist auch gut so, dafür haben wir die Jugend.

Die aktuelle Platte habt ihr im Zuge mehrerer Sessions im Haus Nottbeck in Oelde geschrieben. Ein Ort in Nachbarschaft zu einem Tönnies-Schlachthof. Im Stück »Nottbeck City Limits« heißt es: »Tausend Millionen Tonnen Fleisch pro Jahr, entzündete Gelenke, taube Finger, platzende Köpfe, platzend vom Töten, platzend vom Gebrüll der Maschinen und Kreaturen und Vorarbeiter: Mach schneller!« Ein Betrieb, beispielhaft für alles, was im Kapitalismus schiefläuft?

Thorsten Nagelschmidt: Bei Tönnies ist das schon eine sehr vulgäre Ausprägung. Eigentlich sind derartige Ausbeutungsverhältnisse ein bisschen smarter. Unfassbar, was da in der Zeit los war, als wir im Haus Nottbeck unsere Songs geschrieben haben: Durch die Pandemie und die Corona-Ausbrüche kamen die ganzen Lebens- und Wohnbedingungen der Beschäftigten zutage. Da wurde das Arbeitssklavenprinzip sehr offensichtlich.

Thematisch beschäftigt sich die Platte viel mit der Verortung des Menschen in einer Leistungsgesellschaft. Anders gefragt: Wie müsste eine ideale Welt für das Individuum aussehen?

Thorsten Nagelschmidt: Man sieht, unter was für einem Stress wir uns alle befinden. Natürlich gibt es immer Menschen, denen es noch schlechter geht, die noch härter ausgebeutet werden, Gewalt ausgesetzt sind und unter noch schlimmeren Bedingungen leben müssen. Unsere angeblich so nivellierte Gesellschaft aber halte ich für eine liberale Erzählung, in der viel Ideologie steckt und die so nicht stimmt. Die Konkurrenz, in der wir uns alle befinden und die Sorge um Grundbedürfnisse wie Wohnen, Kinderbetreuung oder Rente tut sowohl dem Einzelnen als auch einer Gesellschaft nicht gut und macht viele Menschen krank. So landet man schnell bei der sozialen Frage als Schlüssel zu allem und braucht gar nicht mehr separat über Kulturpolitik zu reden. Die hat vor allem in Großstädten auch immer mit den Mieten zu tun. Es ist wichtig, dass es Clubs, Proberäume, Ateliers und ganz generell Orte gibt, die sich die Menschen leisten können.

Liegt hier die Schnittmenge zwischen den Texten auf dem Album und »Arbeit«, deinem letzten Roman? Inwieweit hat dich das Schreiben am Buch beim Texten der Songs beeinflusst?

Thorsten Nagelschmidt: Das sind gewisse Themen, für die ich mich interessiere und die dazu führen, dass ich so einen Roman und solche Texte schreibe. Es gibt sogar eine ganz konkrete Schnittmenge. Eine Zeile aus »Arbeit«, die mir schon immer wie ein Songtext vorkam. Da sagt der Taxifahrer Bederitzky an einer Stelle: »Es ist nicht der Verzicht, der quält, sondern der Vergleich.« Ein Verweis auf das ganze Hauen, Stechen und die Konkurrenz im Neoliberalismus, unter denen auch er leidet. Diese Zeile singe ich, leicht abgewandelt im Song »Wie Kamelle raus«. Die passt da genau hin, auch wenn es thematisch eigentlich um etwas anderes geht. Ansonsten ist ein Roman eine komplett andere Textform als ein Songtext, auch wenn es diese thematischen Überschneidungen geben kann. Viel ausschlaggebender finde ich ohnehin Form und Ästhetik der Sprache. Als Leser oder Hörer geht es mir gar nicht immer darum, was, sondern eher wie etwas gesagt wird und ob es mich über einen sprachlichen Zugang stimuliert.

In Interviews hast du schon öfter von einem Berlin-Koller gesprochen. Auch das Stück »Killer« handelt von der klassischen Großstadtvereinsamung. Wird das Hinterland zum Sehnsuchtsort und war nicht die Provinz einmal der Feind aller Punk-Kids, vor dem es zu flüchten galt?

Thorsten Nagelschmidt: Das ist bei mir sehr ambivalent. Ich habe ein starkes Bedürfnis nach Action und liebe es, in der großen Stadt zu leben. Andererseits habe ich aber auch ein wahnsinnig großes Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe. Gleichzeitig sind es die scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüche, die mich interessieren. Das clasht natürlich oft. Mit Muff Potter haben wir uns in Songtexten und den ganzen Bordsteinkantengeschichten ordentlich an unserer Herkunft abgearbeitet. Auch persönlich habe ich zu dem, was man Heimat nennt, eine schwierige Beziehung. Nicht nur politisch, sondern ganz konkret zu meinem Geburtsort Rheine. Das habe ich noch nicht überwunden, in Songs und Büchern wie »Wo die wilden Maden graben« oder »Der Abfall der Herzen« aber irgendwie auch schon alles gesagt. Generell finde ich es schwierig, aus der Großstadt über die Provinz herzuziehen. Das wird schnell zu einem Getrete von oben nach unten. Es ist doch super, dass nicht alle in Berlin leben wollen und Leute auch andernorts etwas auf die Beine stellen. Da fehlt mir oft die Solidarität.

Du hast mir mal erzählt, du seist in vielerlei Hinsicht Autodidakt. Woran bist du das letzte Mal gescheitert?

Thorsten Nagelschmidt: Das kommt immer auf den Zeitpunkt an, zu dem man spricht. Wenn du die Frage vor vier Wochen gestellt hättest, würde ich sagen, an meinen neuen Roman. Den hatte ich da gerade mit dem frustrierenden Gefühl abgebrochen, es einfach nicht hinzukriegen und mir die Zähne auszubeißen. Dann habe ich vor zwei Wochen wieder angefangen und gerade wieder leise Hoffnung, dass ich vielleicht doch nicht gescheitert bin. Das wäre natürlich gut. Ich gebe zwar schon auch mal auf, meistens aber nicht so ganz. Da habe ich eine ganz gute Kondition.
Vielen Dank für das Gespräch!

Muff Potter sind am 29. April 2023 live in der GrooveStation zu erleben (Achtung, Konzert wurde kurzfristig von der Tante JU in die GrooveStation verlegt!). Mehr zur Band unter www.muff-potter.de/

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